FG Baden-Württemberg, Mitteilung vom 23.10.2025 zum Urteil 14 K 1423/21 vom 06.12.2023 (nrkr – BFH-Az.: V R 31/24)
Bei zu Unrecht in Rechnung gestellter und abgeführter Umsatzsteuer kann der Leistungsempfänger im Falle der Insolvenz des Leistenden die zu viel gezahlte Umsatzsteuer statt vom Leistenden im Billigkeitswege sofort und in voller Höhe gegenüber dem Finanzamt geltend machen. Er ist nicht gehalten, seinen Anspruch zunächst zur Insolvenztabelle anzumelden und abzuwarten, mit welchem Bruchteil sein Anspruch im Insolvenzverfahren erfüllt wird.
Sachverhalt
Die Klägerin, eine in der Schweiz ansässige Schweizer Aktiengesellschaft, wird beim beklagten Finanzamt (FA) umsatzsteuerlich geführt. In den Streitjahren 2010 und 2011 unterhielt die Klägerin Geschäftsbeziehungen zu dem in Insolvenz geratenen Handelsunternehmen C mit Sitz in Deutschland. Im Rahmen dieser Geschäftsbeziehungen erbrachte die C Dienstleistungen an die Klägerin, so z. B. Werbeleistungen, Vermittlung von Lieferantenverträgen, Pflege von Lieferantenkontakten. Die Klägerin rechnete in den Streitjahren 2010 und 2011 über die von C erbrachten Leistungen im Gutschriftverfahren unter gesondertem Ausweis deutscher Umsatzsteuer ab. Der Leistungsort befand sich jedoch nach § 3a Abs. 2 Satz 1 Umsatzsteuergesetz (UStG) am Sitz der Klägerin in der Schweiz. Die Klägerin bezahlte die Rechnungsbeträge brutto an C und machte die gezahlte Umsatzsteuer beim FA als Vorsteuer geltend. C führte die Umsatzsteuer an das Finanzamt D im Inland ab. Im Rahmen des noch laufenden Insolvenzverfahrens über das Vermögen von C stellten die Insolvenzverwalter von C einen Antrag auf Erstattung der zu Unrecht abgeführten Umsatzsteuer beim Finanzamt D. Dieses Erstattungsverfahren war im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung noch nicht abgeschlossen.
Die Klägerin zahlte ihrerseits die ihr erstattete Vorsteuer im Februar 2015 an das FA zurück. Sie beantragte sodann im April 2016, ihr den Vorsteuerabzug aus den Gutschriften der Jahre 2010 und 2011 im Billigkeitswege nach § 163 Abgabenordnung (AO) zu gewähren. Das FA lehnte den Antrag ab. Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg.
Aus den Gründen
Die Klägerin habe einen Anspruch auf Vorsteuerabzug aus den Gutschriften der C im Billigkeitswege, weil das dem FA eingeräumte Ermessen auf eine niedrigere Steuerfestsetzung nach § 163 AO auf null reduziert sei. Unter Berücksichtigung der Prinzipien der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Mehrwertsteuersystemrichtlinie), insbesondere des Grundsatzes der Neutralität, und der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, das deutsche Recht so anzuwenden, dass die Effektivität des europäischen Rechts gewährleistet ist, sei es geboten, die Umsatzsteuer im Billigkeitswege niedriger festzusetzen.
Grundsatz der Neutralität
Der Grundsatz der Neutralität im Umsatzsteuerrecht besage, dass Unternehmer vollständig von der im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Umsatzsteuer zu entlasten sind. Gewährleistet sei dies im Regelfall durch das Recht auf Vorsteuerabzug, das nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer sei und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden könne. Im vorliegenden sei die Neutralität der Umsatzsteuer in Frage gestellt, weil die Klägerin zwar Zahlungen an C geleistet habe, die einen Umsatzsteueranteil enthielten, der von C auch an die Finanzverwaltung abgeführt worden sei. Gleichwohl habe die Klägerin keinen Vorsteuerabzug, weil dieser nur bei tatsächlich geschuldeter Umsatzsteuer möglich sei. Die Klägerin habe zu Unrecht in ihren Gutschriften (Rechnungen) Umsatzsteuer ausgewiesen, die C vereinnahmt und an die Finanzverwaltung abgeführt habe.
Rückabwicklungsmöglichkeiten bei zu Unrecht bezahlter Umsatzsteuer
In dieser Konstellation stelle sich die Frage, wie die Neutralität der Umsatzsteuer gewährleistet werden könne. Konstruktiv gebe es hierfür zwei Möglichkeiten: Entweder erfolge die Abwicklung „übers Eck“, also entlang der Leistungs- bzw. Rechtsbeziehungen. Dies würde bedeuten, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht bezahlten Umsatzsteuer gegen C habe und dieser wiederum einen Steuererstattungsanspruch gegen den Fiskus. Alternativ könnte der Klägerin ein Direktanspruch gegen die Finanzverwaltung zugebilligt werden.
Reemtsma-Direktanspruch bei Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers
Die Rechtsprechung halte den erstgenannten Lösungsweg für grundsätzlich angemessen, sehe in Sonderfällen allerdings die Erforderlichkeit, einen Direktanspruch zuzubilligen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH seit der Rechtssache Reemtsma Cigarettenfabriken (EuGH-Urteil vom 15. März 2007 – C-35/05) stünden die Grundsätze der Neutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, nach denen nur der Dienstleistungserbringer einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gegen die Steuerbehörden habe und der Dienstleistungsempfänger eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung der nicht geschuldeten Leistung gegen diesen Dienstleistungserbringer erheben könne. Für den Fall, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert werde, müssten die Mitgliedstaaten jedoch, damit der Grundsatz der Effektivität gewahrt werde, die erforderlichen Mittel vorsehen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen, insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers.
Verfahrensrechtliche Umsetzung des Reemtsma-Direktanspruchs
Der BFH habe aufgrund dieser Leitlinien des EuGH entschieden, dass der Leistungsempfänger zwar nicht selbst einen Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO habe, die Billigkeitsregelungen der §§ 163 und 227 AO aber eine hinreichende Möglichkeit böten, trotz Fehlens der materiell-umsatzsteuerrechtlichen Voraussetzungen den Vorsteuerabzug – jedenfalls im wirtschaftlichen Ergebnis – geltend zu machen, um auf diesem Weg den im Insolvenzverfahren nicht zu realisierenden Teil der gegen den Rechnungsaussteller gerichteten, zivilrechtlichen Forderung vom Finanzamt gutgebracht zu bekommen (BFH-Urteil vom 30. Juni 2015 VII R 30/14, BStBl II 2022 S. 246).
Keine Minderung des Reemtsma-Anspruchs in Insolvenzfällen
Das FA verstehe die letztgenannte Entscheidung so, dass der Leistungsempfänger vorrangig im Insolvenzverfahren versuchen müsse, die Erstattung der zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuer von seinem zivilrechtlichen Vertragspartner, dem Leistenden, im vorliegenden Fall also C, erstattet zu erhalten. Einen Direktanspruch habe er nur in dem Umfang, in dem seine Forderung wegen nicht ausreichender Masse ausfalle. Dem folge der Senat nicht. Er halte es für sachgerecht, im Insolvenzfall dem Leistungsempfänger sofort und in voller Höhe einen Direktanspruch zuzubilligen.
Die Auffassung des FA sei nicht geeignet, die europarechtlich gebotene Neutralität der Umsatzsteuer und die Effektivität des europäischen Rechts zu gewährleisten. Sie habe zur Folge, dass der Leistungsempfänger unter Umständen viele Jahre warten müsse, bis er seinen nach der Rechtsprechung des EuGH letztlich unzweifelhaft bestehenden Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Umsatzsteuer geltend machen könne. Dies belege das vorliegende Verfahren eindrücklich. Das Insolvenzverfahren sei seit nunmehr über elfeinhalb Jahren anhängig. Es sei mit einer nicht unerheblichen Fortdauer des Verfahrens zu rechnen, weil der Insolvenzverwalter von C derzeit noch Gerichtsprozesse führe, die das Ziel hätten, die Insolvenzmasse zu mehren. Während dieser Zeit sei der Fiskus ungerechtfertigt bereichert. Denn unstreitig habe er im vorliegenden Fall die von C abgeführte Umsatzsteuer zu erstatten, sei es an C, sei es an die Klägerin. Diese lange Verfahrensdauer entziehe dem letztlich mit der Steuer belasteten Unternehmer Liquidität, ohne dass es hierfür einen rechtfertigenden Grund gebe. Vor diesem Hintergrund sei die Klägerin nicht gehalten gewesen, ihren Anspruch gegen C zur Insolvenztabelle anzumelden und zunächst abzuwarten, mit welchem Bruchteil der Anspruch im Insolvenzverfahren erfüllt würde, bevor sie einen Direktanspruch gegen den Beklagten geltend mache.
Keine Gefahr der Doppelerstattung bei richtiger Sachbehandlung
Nach Auffassung des erkennenden Senats sei der Erstattungsanspruch des Leistenden gegen das FA auch im Falle einer Insolvenz nur gegeben, wenn er zuvor die in der Rechnung zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer an den Leistungsempfänger zurückbezahlt habe. Der BFH habe ausdrücklich auch in Fällen der Insolvenz die Rückzahlung des berichtigten Steuerbetrags vom Leistenden an den Leistungsempfänger verlangt (BFH-Urteil vom 16. Mai 2018 XI R 28/16, BStBl II 2022 S. 570, Rn. 53; BFH-Beschluss vom 5. Januar 2021 XI S 20/20 (PKH), HFR 2021, 500, Rn. 27).
Bei richtiger Sachbehandlung bestehe daher nicht die Gefahr, dass die Finanzverwaltung die zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer zweimal erstatten müsse. Denn der Erstattungsanspruch des insolventen Leistenden stehe unter der aufschiebenden Bedingung, dass er seinerseits die zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer dem Leistungsempfänger erstattet. Dies sei ihm aufgrund der insolvenzrechtlichen Bestimmungen unmöglich.
Nicht rechtskräftig: Revision beim BFH (Az. V R 31/24).
Quelle: Finanzgericht Baden-Württemberg, Newsletter 1/2025
FG Baden-Württemberg, Mitteilung vom 23.10.2025 zum Urteil 14 K 1423/21 vom 06.12.2023 (nrkr – BFH-Az.: V R 31/24)
